Die Vertreibung der Singvögel
Kurz nach dem diesjährigen Jazzfest in der Bergmannstraße machte der interessierte Kreuzberger Bürger eine eigenartige Beobachtung: von einem Tag zum anderen war die Straße mit dreieckigen Fähnchen in den munteren Farben gelb, blau, rot und weiß geschmückt. Von einem Haus zum anderen auf der gegenüber liegende Straßenseite waren in unterschiedlicher Höhe und kreuz und quer diese kleinen Wimpel, die sich eifrig im Wind bewegten, zu sehen.
Neugierig fragte der interessierte Kreuzberger nach: Sollte vielleicht ein weiteres Straßenfest angekündigt werden oder hatte man einen Feiertag vergessen oder war das vielleicht eine politische Aktion? »Nein, diese kleinen Fähnchen sind Kunst«, sagte eine aufgeklärte Geschäftsfrau. Oh, das also ist Kunst.
Kurze Zeit darauf beklagten Anwohner eine verminderte Wohnqualität, denn die kleinen bunten Fähnchen verursachen durch ihr Gewedel ein Geräusch, das sich wie Regen anhört. Also wurden die Fenster geschlossen, der Sonnenschein sollte doch nicht vom Regengeräusch gestört werden und man schwitzte lieber hinter geschlossenen Fenstern.
»Das alles ließe sich noch ertragen, wenn nicht alle Singvögel vor dem Gewedel geflohen wären«, so eine Vogelliebhaberin. In der Tat lassen sich Vögel von flatternden Wimpeln vertreiben. Ersatzweise kann auch Wäsche genommen werden. Nun war dies sicherlich nicht beabsichtigt.
In der Bergmannstraße gibt es etliche Vogelfreunde, die sich auch im Winter darum sorgen, dass die Vögel gut versorgt werden. Das hatte zur Folge, dass neben Staren, Amseln und Rotkehlchen auch Buchfinken über die Jahre mitten in der Straße heimisch wurden. Die Anwohner haben immer wieder mit Stolz auf die Artenvielfalt der Singvögel verwiesen und hatten große Freude an deren Gesang.
So kann Kunst auch Lebensfreude trüben.
Erschienen in der gedruckten KuK vom Dezember 2009.