Marcel Marotzke lässt sich professionell beraten
Ich kam ein paar Minuten zu spät zu meiner samstäglichen kolumnistischen Beratungsstunde. In Mitte war fast alles gesperrt gewesen, weil rund 20.000 Menschen dort allen Ernstes »für das Ende von Corona« demonstriert hatten, wie ich einem Plakat entnehmen konnte. Wie sie sich das vorstellten, war nicht recht verständlich, und dass keiner eine Maske trug, machte ihr eigenartiges Anliegen um so unglaubwürdiger. Immerhin, mit dem Sprechchor »Wir sind die zweite Welle« mochten sie recht haben. Es war erbarmungswürdig.
»Du bist spät dran«, kommentierte meine Beraterin.
»Ja, ich weiß«, druckste ich herum und erklärte ihr, was mich aufgehalten hatte.
»Vielleicht solltest du die Schuld nicht immer bei anderen suchen?«, warf sie ein.
»Machen die doch auch!«, erwiderte ich patzig. »Immer muss irgendwer am eigenen Unwohlsein schuld sein. Bill Gates, Merkel, die 5G-Lobby … Das ist doch affig«, regte ich mich auf. »Nur weil die zu blöd oder faul sind, eine Maske zu tragen und ein bisschen Rücksicht auf andere zu nehmen.«
Meine kolumnistische Beraterin nickte verständnisvoll. Ihre Vergangenheit als Psychologin kam mal wieder zum Vorschein.
»Im Übrigen habe ich es satt, ständig über irgendwas mit Corona zu schreiben«, kam ich zum eigentlichen Grund meines Besuchs. »Ich brauche mal wieder ein Thema, das Menschen glücklich macht, statt sie zu frustrieren und … denen … in die Arme zu treiben.«
Sie überlegte. »Schreib doch was über Skifahrer«, sagte sie dann.
»Skifahrer?«, erwiderte ich irritiert. »Und wo ist da der Kreuzberg-Bezug?«
»Na, du wirst doch wohl auch Leute in Kreuzberg kennen, die Ski fahren.«
»Ja, aber du weißt schon, dass wir gerade den ersten August haben?« Draußen waren an die 30 Grad. Meine kolumnistische Beraterin musste einen Hitzschlag erlitten haben.
»Antizyklisch denken!«, forderte sie mich auf.
»Also ich denke beim Skifahren vor allem an Bänderrisse und Knochenbrüche«, überlegte ich. »Und an den Corona-Ausbruch in Ischgl natürlich.«
»Da hast du recht, das ist nicht gut«, gab sie zu. »Vielleicht was über den Postraub gestern am Hermannplatz?«
»Ich glaube, da ist der Kollege Reuter schon dran. Außerdem: Die Frage, die mich am meisten beschäftigt, ist ja, ob die Bankräuber eigentlich Masken trugen. Wir haben schließlich gerade eine Pandemie – auch wenn einige Leute das nicht glauben wollen.« Ich fing schon wieder an, mich aufzuregen.
Sanft legte sie ihre Hand auf meine Schulter. »Du fängst schon wieder an, dich aufzuregen«, stellte sie fest. »Schreib doch was über Kneipen. Das geht immer!«
»Kneipen und Aerosole?«, fragte ich. Ich konnte mir das Grinsen nicht verkneifen, aber da ich eine Maske trug, konnte sie es nicht sehen.
»Oh Mann!« Sie fasste sich an den Kopf. »Hauptsache«, seufzte sie, »du lässt mich da raus.«
»Keine Sorge«, log ich. »Niemals würde ich öffentlich zugeben, dass ich kolumnistische Beratung in Anspruch nehme.«
Erschienen in der gedruckten KuK vom August 2020.