So war 2010 im Kiez / Ein Jahresrückblick von Peter S. Kaspar
Das Jahr beginnt so, wie es aufhören wird, mit Schnee und Frost. Es gibt einen kleinen, aber bedeutenden Unterschied. Der Jahresbeginn leitete eine sechswöchige Eis- und Kälteperiode ein. Am Ende des Jahres währt die schon seit vier Wochen.
Bei Radio Multicult2.0 herrscht Freude: Die Ex-Multikulti-Macher haben nun ein Studio in der Marheineke-Markthalle. Außerdem gibt’s wieder ein kleines Fenster auf einer Frequenz.
Im Februar lehnt die BVV fast einhellig den Haushalt für 2010 und 2011 ab. Nur die SPD stimmt dafür. Alle anderen Parteien demonstrieren damit gegen die Politik des Senats, der die Bezirke am ausgestreckten Arm verhungern lässt.
Fast wie ein Aprilscherz mutete es an, dass der Bezirk versucht einen möglichst alkoholfreien 1. Mai durchzusetzen. Der tatsächliche Aprilscherz der KuK, nämlich dass Kreuzberg Europäisches Pilotprojekt für ein absolutes Rauchverbot wird, segelt derweil unter die Top 100 der besten deutschen Aprilscherze 2010.
Die gute Nachricht im April: Der monatelange Kampf um den Erhalt des SO36, in den sich unter anderem auch heldenhaft die »Toten Hosen« gestürzt hatten, ist erfolgreich. Der Club bleibt – und wird auch noch zum besten Deutschlands gewählt.
Doch nicht überall sieht es an der Gentrifizierungsfront so gut aus. Im Fanny-Hensel-Kiez explodieren die Mieten für alle Mieter mit türkischen und arabischen Nachnamen. Wer sich solidarisiert und protestiert muss ebenfalls mehr bezahlen – und dann gibt’s auch noch einen Verzweiflungstoten.
Der Eyjafjallajökull verfinstert Europas Luftraum und lässt auch so manchen Kreuzberger irgendwo stranden. Abenteuerliche Geschichten von abenteuerlichen Heimfahrten häufen sich.
Der erste Mai kommt und es gibt doch an ein paar Bühnen Bier. Die dürfen aber nur Bier ausschenken, wenn sie eine umfangreiche Security stellen. Die aber kostet Geld. Der Bierausschank rechnet sich nur, wenn während des gesamten Myfestes alle neun Sekunden ein Bier über den mobilen Tresen geht.
Rettung, Rücktritt, Ränke schmieden – Was in der zweiten Hälfte von 2010 passierte
Ob es deshalb am 1.Mai recht ruhig bleibt? Nun ja – es regnet auch und der Niederschlag spült wie immer eine Menge Krawallbereitschaft weg.
Berlin ohne Bundesliga? Hertha macht‘s möglich nach dem Abstieg. Für ein paar Fans ist das wohl zuviel. Sie attackieren beim Umzug zum Karneval der Kulturen den Wagen von Tennis Borussia.
Das Tempelhofer Feld ist offen für alle. Aus dem einstigen Kiezflughafen wird die größte Spielwiese südlich von Kreuzberg.
Marga Behrends ist tot. Sie verbrachte ihre 102 durchaus aufregenden Lebensjahre alle im Kiez zwischen Tempelherren- und Fürbringerstraße. Außerdem war die Jugendfreundin von Marlene Dietrich die letzte überlebende Tänzerin vom Admiralspalast.
Es ist wie im Jahr 2006. Nach einem kühlen, feuchten Frühling wird es mit Beginn der Fußball-WM richtig warm, das lässt hoffen.
Auf dem Tempelhofer Feld hat offenbar ein Sportflieger noch nicht realisiert, dass hier kein Flughafen mehr ist. Er landet zwischen Skatern und Drachenfliegern. Notlandung, meint der Pilot.
Große Ehre: Der Preis »Europa nostra« geht an die Initiative für die Sanierung des Baerwaldbades.
Es wird immer heißer. Im Juli ist Kreuzberg an einem Tag sogar der heißeste Fleck der Republik. Die WM endet – und der Sommer ist faktisch zu Ende. Dafür kommt Wowi zum Kiezbesuch und kuckt sich den Kotti an. Für die Berliner Schüler beginnt die Sekundarschul-Ära – für die in der neuen Friedrich-Ludwig-Jahn-Sekundarschule im Graefekiez beginnt sie zunächst gar nicht. Das Schulgebäude stellt sich zu Schulbeginn als nicht beziehbar heraus. Die Bezirksstadträtinnen Monika Herrmann und Jutta Kalepky streiten sich darüber, wer schuld ist.
Im September ist Marathon – ohne Sonne und ohne Haile. Da kommt unvermutet ein Lichtlein: Der konservative CDUler Kurt Wansner denkt darüber nach, gut ausgebildete junge Kreuzberger Türken zurück in die Heimat zu holen – wenn sie inzwischen einen gut bezahlten Job am Bosporus gefunden haben.
Eigentlich hätte jetzt im Oktober das letzte Stündlein für das Archiv der Jugendkulturen geschlagen. Doch die Rettung in letzter Minute heißt: Stiften gehen. Eine Stiftung rettet das Archiv. Keine Rettung dagegen gibt’s für die Auslage des Revolutionsladens M99 in der Manteuffelstraße in 36. Vermutlich sind es Neonazis, die das Feuer gelegt haben.
Das Gegenteil von Integration: Im fränkischen Hof fliegt ein junges Paar aus dem gebuchten Hotel. Begründung: Ihr Wohnort ist Kreuzberg.
Abschied von Miran Hauptmann. Der Mitbegründer der KuK stirbt im Alter von 57 Jahren.
Im November werden die Preisträger für die beste Friedensidee auf der Admiralsbrücke gekürt. Ob die Ideen funktionieren, wird sich wohl erst im Frühjahr zeigen, wenn es wieder warm und trocken ist.
Der Wahlkampf im Bezirk fängt früh an. Ein gutes Jahr vor den Kommunalwahlen verkündet SPD-Chef Jan Stöß, dass er der nächste Bezirksbürgermeister werden will.
Ihre eigene Eckkneipe in Kreuzberg war ihr letztes Lebensziel. Die hatte Berlins dickste Hure, Molly Luft, zwar 2004 noch eröffnen, aber nicht halten können. Im November stirbt sie in einem Pflegeheim in Köpenick im Alter von 66 Jahren.
Irgendwie hatten wir das alles schon: Diesmal kommt der große Schnee bereits Anfang Dezember. Wie lang soll dieser Winter denn werden? Winterliche Überraschung: Baustadträtin Jutta Kalepky tritt zurück, was Insider nicht wirklich überrascht.
Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2011.