Marcel Marotzke enthüllt ein gastronomisches Geheimnis
Alles begann, als es in der Stammkneipe kürzlich ans Bezahlen ging. Der Betrag, den die Bedienung genannt hatte, entsprach zwar im Großen und Ganzen meinem Trunkenheitsgrad, aber irgendwas war dann doch komisch. Jedenfalls studierte ich die vorgelegte Seite des Kellnerblocks ein wenig aufmerksamer als sonst. Tatsächlich stimmte alles, soweit ich das in meinem Zustand beurteilen konnte. Etliche Biere waren dort aufgelistet, und auch die zwei Wodka, die ich ausnahmsweise hatte bestellen müssen, um die Verdauung einer ungewöhnlich widerspenstigen Köftemahlzeit überhaupt erst zu ermöglichen, fehlten nicht.
Doch dann entdeckte ich ganz oben zwei Buchstaben: »FK«.
»Was soll denn das heißen?«, erkundigte ich mich. »Fanta-Korn?«
»Fischkopp«, erklärte die Bedienung. »Du kommst doch ausm Norden.«
»Ja und?« Ich verstand nicht.
»Na, ‚Marcel‘ kann ich nicht schreiben, da gibt’s ja noch einen hier.« Sie deutete in Richtung Ecktisch, wo mein Namensvetter saß und an seinem Schultheiss nuckelte.
»Na, dann schreib doch ‚MM‘ wie ‚Marcel Marotzke‘», schlug ich vor.
»Nee«, sagte sie, »‚MM‘ steht schon für Maurer-Micha.«
»Ach so.« Ich verstand. »Und Klempner-Micha, oder wie du ihn nennst, heißt dann ‚KM‘?«
»Nein, der heißt ‚GWS‘.« Ich musste wohl etwas irritiert geguckt haben. »Gas–Wasser–Scheiße«, erklärte sie ruhig.
»Weiß er das?«
»Nein, das weiß er nicht«, erwiderte sie und ihr Blick verfinsterte sich. »Und dich geht das auch nichts an. Wolltest du nicht gerade gehen? Du hast auch übrigens noch nicht bezahlt.«
Nicht ohne sie meiner Diskretion zu versichern, bezahlte ich den geforderten Betrag sowie ein üppiges Trinkgeld und ging nach Hause.
Doch die rätselhaften Namensabkürzungen ließen mich nicht los. Beim Bezahlen hatte ich noch einen verstohlenen Blick auf die übrigen Zettel geworfen und weitere Kürzel entdeckt: »S1«, »S2« und »S3« waren selbsterklärend. Es konnte sich dabei nur um die sage und schreibe drei Stefans handeln, die auch heute da waren und mit den Michaels unter den Stammgästen um die Vorherrschaft in Sachen Sammelbegriff konkurrierten. »ABC« war natürlich Claudia, von Beruf Grundschullehrerin. Bei »KFZ« brauchte ich ein wenig, bis mir klar wurde, dass sich dahinter nicht Alex verbergen konnte, der zwar eine Autowerkstatt besaß, aber an dem Abend gar nicht da gewesen war. Es musste Kalle sein, der, jetzt erinnerte ich mich, mit bürgerlichem Namen Karl-Friedrich Ziegler hieß. Und »XXX« war natürlich Angie, die, wenn sie betrunken war, damit prahlte, früher in Erwachsenenfilmen mitgespielt zu haben. Am Ende blieb nur ein Kürzel übrig.
»Ich weiß, es geht mich nichts an«, fragte ich am nächsten Abend kleinlaut. »Aber bitte, bitte verrate mir doch, wer sich hinter ‚VS‘ verbirgt.«
»Das kann ich dir leider nicht sagen«, erklärte mir die Bedienung mit Verschwörermiene. »Das ist Verschlusssache.«
Erschienen in der gedruckten KuK vom Januar 2020.