Marcel Marotzke erleidet eine postapokalyptische Belastungsstörung. Ein posthumes Protokoll
Freitag, 20:11 Uhr. Per E-Mail erfahre ich, dass mein DHL-Paket in der Postfiliale in der Bergmannstraße liegt.
Samstag, 8:30 Uhr. Voller Motivation reihe ich mich in die bereits 30 Meter lange Schlange vor der Post ein. Die Filiale öffnet erst in einer Stunde, aber die guten Plätze in der Schlange sind heiß begehrt.
9:30 Uhr. Pünktlich öffnen sich die Tore. 20 Meter Schlange passen in den Vorraum. Ich stehe vor der Tür, genau wie die rund hundert Menschen hinter mir.
9:45 Uhr. Ein Mitarbeiter vom DRK verteilt alkoholfreien Glühwein gegen die Kälte.
10:00 Uhr. Ich rücke in den Vorraum auf. Hier gibt es kein Problem mit der Kälte, eher im Gegenteil.
10:15 Uhr. Die junge Frau vor mir, von der ich inzwischen weiß, dass sie Miriam heißt, bittet mich, kurz ein Auge auf ihre Kinder zu haben, die vor den Postfächern Pokémon jagen, und ihren Platz in der Schlange freizuhalten, damit sie in der benachbarten Bäckerei mal auf die Toilette gehen könne.
10:40 Uhr. Miriam ist zurück. In der Bäckerei gab es wohl eine längere Kloschlange mit Postkunden. Außerdem hatte sie etwas länger mit den Beamten der Einsatzhundertschaft diskutieren müssen, die draußen den Zugang kontrollieren.
10:55 Uhr. Ein vollbärtiger Typ mit Holzfällerhemd und riesigen Kopfhörern um den Hals hat es irgendwie an der Eingangskontrolle vorbeigeschafft und erklärt den Wartenden, er müsse nur kurz ein Paket abholen. Die Stimmung droht zu kippen, aber bevor es zu einer Schlägerei kommen kann, flüchtet der Hipster nach draußen.
11:10 Uhr. Die beiden Punks, die sich in den letzten Stunden mit dem netten syrischen Flüchtling angefreundet haben, versuchen, ihm den Zungenbrecher mit dem Potsdamer Postkutscher beizubringen. »Der Postdamer Potskutser …«, versucht er es und muss lachen. Die Stimmung ist allgemein etwas gelöster.
11:30 Uhr. Der Mensch mit dem Gitarrenkasten, der bislang eher gelangweilt herumgestanden hat, packt endlich seine Klampfe aus, und wir singen alle gemeinsam »Hoch auf dem gelben Wagen«.
12:00 Uhr. Noch eine Stunde Zeit, bis die Filiale schließt. Mal sehen, ob das reicht.
12:02 Uhr. Mir fällt ein, dass ich keinen Personalausweis dabei habe. Scheiße!
12:04 Uhr. Miriam hat ihren Ausweis dabei. Auf der Rückseite eines Flyers, der den Top-Kundenservice der Postbank bewirbt, schreibe ich ihr eine Vollmacht zur Abholung meiner Post.
12:30 Uhr. Am Horizont verschwindet gerade der einzige Mitarbeiter der Filiale mit einer Benachrichtigungskarte im Lager.
12:35 Uhr. Der Mitarbeiter ist zurück, allerdings ohne Paket. Aber die Zeit ist trotzdem rekordverdächtig.
13:02 Uhr. Es hat geklappt! Miriam wird als letzte Kundin noch bedient und übergibt mir mein Paket. Vor der Tür erteilt die Polizei gerade Platzverweise an die letzten renitenten Wartenden. Das DRK baut seine mobile Suppenküche ab.
Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.