Wahrheiten in der Dachstube

Peter S. Kaspar über die erstaunliche Geschichte der Rahel Varnhagen von Ense

Der Pförtner in dem früheren Pförtnerhaus der Friedhöfe am Halleschen Tor hatte einen etwas unheimlichen Job. So hatte er unter anderem auf neun Glöckchen zu achten, die in seinem Raum hingen. Es ist nicht überliefert, dass auch nur einmal eines geläutet hätte.

Die Glöckchen waren über Schnüre mit dem benachbarten Kolumbarium verbunden, einem Raum, in dem Tote in ihren Särgen aufgebahrt waren. All diese Särge hatten ein kleines Loch, durch das die Schnüre führten, die mit den Zehen der Leichen verbunden waren. So sollte sichergestellt werden, dass nicht aus Versehen ein Scheintoter beerdigt wird.

Rahel Levin, später Varnhagen, war eine der ersten Saloniéren. Porträt von Moritz Daffinger 1800

Auch die bekannte Saloniére Rahel Varnhagen von Ense hatte eine so panische Angst davor, bei lebendigem Leibe begraben zu werden, dass sie sich nach ihrem Tod nicht bestatten, sondern im Kolumbarium aufbahren ließ.

Den leicht exzentrischen Wunsch verwehrte ihr niemand, noch war jemand davon besonders überrascht. Sie galt schon zu Lebzeiten als eher ungewöhnliche Frau.

Sie wurde am 19. Mai 1771 in Berlin als Rahel Levin geboren. Ihr Vater war Bankier und Juwelenhändler. Die Familie war zwar wohlhabend, aber auch jüdisch, was einen gesellschaftlichen Aufstieg schwierig machte.

Rahel gelang es trotzdem. Sie war eine der ersten Frauen, die einen literarischen Salon eröffneten. 1790 war das, und die Namen auf ihrer Gästeliste konnten sich wahrhaft sehen lassen. Namen wie die der Dichter Heinrich von Kleist, Adalbert von Chamisso, Jean Paul und Ludwig Tieck fanden sich darunter, aber auch von Wissenschaftlern wie den Brüdern Wilhelm und Alexander von Humboldt. Der Neffe des Alten Fritz’, Louis Ferdinand, zählte ebenso zu dem Kreis. Für den Prinzen war die regelmäßige Begegnung mit »normalen« Menschen offensichtlich eine sehr wichtige Erfahrung. Rahel schrieb 1800 in einem Brief: »Wissen Sie, wer jetzt noch meine Bekanntschaft gemacht hat? Prinz Louis. Den find’ ich gründlich liebenswürdig. Solche Bekanntschaft soll er noch nicht genossen haben. Ordentliche Dachstuben-Wahrheit wird er hören.«

Das mit den Dachstubenwahrheiten darf durchaus wörtlich genommen werden, denn Rahels erster Salon war nicht in einem prächtigen Saal in einem pompösen Stadtpalast, sondern in einer vergleichsweise bescheidenen Wohnung im Dachgeschoss.

Das alles hatte sie ganz ohne männliches Zutun geschafft. Ihre Liebesgeschichten endeten immer tragisch, bis 1814, als sie Karl August Varnhagen kennen und lieben lernte. Die Beziehung hatte einen kleinen Schönheitsfehler: Er war 14 Jahre jünger als sie. Der Liebe tat das keinen Abbruch.

Nachdem ihr Gatte geadelt wurde, wurde aus der früheren Rahel Levin endgültig Rahel Varnhagen von Ense.

1819 gründete Rahel in der Mauerstraße ihren zweiten Berliner Salon. Und wieder lockte er zahlreiche große Namen an, wie etwa Heinrich Heine oder den Fürsten Pückler.

Mit 63 starb Rahel und wurde in einem Zinnsarg mit Sichtfernstern aufgebahrt. Erst 25 Jahre nach ihr starb ihr Mann – und erst neun Jahre nach seinem Tod wurde Rahel schließlich an seiner Seite beerdigt. Die beiden liegen nun gemeinsam in einem Grab, das 1956 vom Land Berlin zu einem Ehrengrab erklärt wurde.

 

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2019.