Beim falschen Namen steigt die Miete

Fanny-Hensel-Kiez-Bewohner bangen um ihre Wohnungen

Und ganz am Schluss fällt dann doch noch ein Wort, auf das viele gewartet haben: Verfassungsbeschwerde. Die Pressekonferenz, zu der Bezirksbürgermeister Dr. Franz Schulz (Grüne) geladen hatte, offenbarte nicht nur die derzeit beklagten Missstände in der Fanny-Hensel-Siedlung, sondern auch einen schwindelerregenden Abgrund, in den bald noch viel, viel mehr Mieter blicken könnten. Nach dem Auslaufen der Anschlussförderung für den sozialen Wohnungsbau, der schon 2003 beschlossen wurde, zeigen sich nun für viele Mieter die dramatischen Folgen. Ihre Miete kann nun von einem Tag auf den anderen drastisch steigen. Mieterhöhungen können rückwirkend eingefordert werden, und Mieter, die nicht bezahlen können, müssen innerhalb von zwei Wochen die Wohnung räumen.

Dabei müssen die Besitzer die Miete nicht unbedingt bei jedem und alle Mieten gleich erhöhen. Der Sprecher der Mietervertretung der Fanny-Hensel-Siedlung, Sebastian Jung, beobachtete, dass im Haus 5 und 5a in den Wohnungen über 90 Quadratmeter nur türkische und arabische Mitbewohner von den teils drastischen Mieterhöhungen betroffen waren, Bewohner mit deutschen und polnischen Namen hingegen nicht. Als sich Jung bei dem Vermieter nach dieser Merkwürdigkeit erkundigte, flatterte auch ihm eine bedeutende Mieterhöhung ins Haus, mit dem Verweis darauf, dies sei doch der beste Beweis dafür, dass die Mieterhöhungen nichts mit der Herkunft des Mieters zu tun hätten.

Vom Senat und den städtischen Wohnungsbaugesellschaften ist entgegen großmundiger Ankündigung nichts zu erwarten. Weil nun 23 Parteien aus dem Siedlungsteil I ausziehen müssen, sollte die städtische Wohnungsbaugesellschaft entsprechende Angebote unterbreiten. Diese sollten nur zwei Bedingungen erfüllen: Sie sollten einigermaßen ortsnah gelegen sein und vor allem bezahlbar, weil viele der Betroffenen von ALG II leben. Bekanntlich bezahlt das Jobcenter die Miete von ALG-II-Empfängern nur bis zu einer gewissen Höhe. Diese Bedingung erfüllte nur eines von 34 Angeboten. Acht Angebote lagen in anderen Bezirken, eines sogar in einem anderen Bundesland.

Alles in allem sind 28.000 Mieter in ganz Berlin von den explodierenden Mieten bedroht, weiß Reiner Wild vom Mieterverein Berlin. Er weist darauf hin, dass hier eine eklatante Lücke im Mieterschutz klafft.

Helfen könnte hier nur der Senat, doch statt Hilfe sieht Franz Schulz nur Ablehnung: »Die Senatverwaltung verweigert sich einem Runden Tisch«, erklärt er. Er spricht von einer »sozialpolitischen Schweinerei.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom Mai 2010.

Alkoholfrei in den Mai

Bezirksamt verhängt Verkaufsverbot für Glasflaschen

Wer am Morgen eines 2. Mais zwischen Mariannenplatz und Kotti durch die Straßen von Kreuzberg 36 schlendert, darf sich auf das Durchwaten etlicher Scherbenhaufen gefasst machen. Wenn es nach dem Bezirksamt geht, soll sich das dieses Jahr ändern.

Bald arbeitslos? (Glas-)Flaschensammler auf dem Mariannenplatz Foto: rsp

In einem im Internet veröffentlichten Schreiben teilte man Mitte März den Anwohnern und ansässigen Gewerbetreibenden mit, dass dieses Jahr ein umfassendes Verkaufsverbot für Glasflaschen und Getränkedosen bestehe. Darüber hinaus dürfe an Anwohnerständen kein Alkohol mehr ausgeschenkt werden, auch nicht in Pappbechern. Auch wolle man die ohnehin bestehenden gesetzlichen Regelungen zu Ladenöffnungszeiten konsequent verfolgen. Im Klartext heißt das, dass Kiosk- und Spätkaufbesitzer ihre Geschäfte nicht öffnen dürfen und auch Dönerläden und Kneipen der Außer-Haus-Verkauf von Glasflaschen untersagt ist.

Begründet wird das Verkaufsverbot mit der Unfallgefahr, aber auch mit der besonderen Eignung von herumliegenden Flaschen als Wurfgeschoss bei den alljährlichen Randalen. Und »auch gefüllte Dosen«, so der stellvertretende Bezirksbürgermeister Dr. Peter Beckers, »sind Wurfgeschosse.«

Mit Vorgaben oder Vorschlägen der Polizei habe die neue Regelung nichts zu tun, vielmehr handle es sich Ideen der MyFest-Organisatoren, erklärte Beckers weiter. Betroffen ist das gesamte Areal zwischen Mariannenplatz, Oranienplatz und Skalitzer Straße.

Eben dort, Skalitzer Ecke Mariannenstraße, befindet sich der Getränkehändler, der am 1. Mai vermutlich den größten Umsatz erwirtschaftet: Die Aral-Tankstelle von Thomas Kalweit. Laut Beckers soll das Flaschenverkaufsverbot auch hier gelten.

Glasflaschenverkaufsverbot soll auch für Tankstelle gelten

Für Thomas Kalweit würde ein Verkaufsverbot einen Umsatzausfall von 40.000 Euro bedeuten, immerhin mehr als ein Viertel des MyFest-Etats. Bescheid gesagt hat ihm indessen noch niemand. »Da kann man mir auch nicht mit Staatsraison kommen«, sagt der Aral-Pächter, der der Angelegenheit aber gelassen entgegensieht und auch auf die Lobby seiner ‚Company‘ vertraut.

Das mit der Regelung einhergehende faktische Alkoholverkaufsverbot hält er selbst für keine gute Idee: »Solange die immer noch ihren Alkohol kriegen, sind sie friedlich.«

Wenn er wirklich kein Bier verkaufen darf, wird er seine Tankstelle am 1. Mai einfach schließen. Das wäre ärgerlich für die Einsatzkräfte von Polizei und Rettungsdienst, dient ihnen doch die Tankstelle traditionell auch als eine Art Knotenpunkt und Rückzugsort.

Noch ist nicht hundertprozentig sicher, ob sich das Flaschenverbot tatsächlich auch auf die Aral-Tankstelle bezieht, und Kalweit will erst einmal abwarten, bis er direkt vom Ordnungsamt angesprochen wird. Fest steht aber schon jetzt, dass das Vorhaben des Bezirksamts in der Umsetzung nicht unproblematisch sein wird. Das Mitbringen von Flaschen in die ‚Bannmeile‘ ist nicht verboten, folglich wird es auch keine Taschenkon­trollen geben, die, wie es hieß, ohnehin nicht politisch gewünscht seien. So dürfte es, was den Alkoholkonsum aber auch die Anzahl potentieller »Wurfgeschosse« angeht, kaum einen Unterschied zu den Vorjahren geben, in denen teilweise sogar noch Mehrweg-Flaschen zum Zwecke der Müllvermeidung propagiert wurden.

Für Kalweit, aber vor allem auch die vielen kleinen Geschäfte in der Festzone werden die Umsatzeinbußen sicher spürbar sein. Profitieren werden höchstens die Betreiber der wenigen Alkohol ausschenkenden Stände, die in der Nähe von Bühnen genehmigt werden. Abzuwarten bleibt, wie die Besucher angesichts der Mangelsituation reagieren. Ob Alkoholentzug bei den Feierwilligen zur guten Laune beiträgt, ist wohl eher ungewiss.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2010.

Kein blauer Dunst mehr – nirgendwo!

Kreuzberg wird Europas erster Rauchverbotsmusterbezirk

Kreuzberg staunt über das neueste EU-Pilotprojekt unter der Schirmherrschaft des frischgebackenen EU-Kommissars Günter Öttinger. Ab 1. April 2011 gilt das absolute Rauchverbot im Kiez. Weder in Raucherkneipen, noch auf der Straße oder in Privatwohnungen wird der Genuss von Tabak erlaubt sein. Die BVV beschloss in ihrer letzten Sitzung die Zustimmung zu diesem Projekt, nicht ohne stolz auf die Unterstützung des Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit zu verweisen, der Kreuzberg als geeigneten Bezirk für diesen Feldversuch favorisierte. »Kreuzberg ist für Europa der Vorzeigekiez hinsichtlich EU-Zuwanderung, insbesondere die schwäbischen Immigranten lassen eine hohe Akzeptanz des Rauchverbots erhoffen«, meint Günter Öttinger. Vorbild für dieses Projekt ist das amerikanische Belmont, Kalifornien, in dem das absolute Rauchverbot durchgesetzt wurde.

Erste Reaktionen sind harsch: »Das ist ein weiterer Anschlag der vergnügungsfernen Bildungsschichten auf die lebensfrohe Kreuzberger Art«, meint der Vorsitzende der Hedonistischen Union, Tobias Bouwer, voller Empörung.

Schlechte Zeiten für Raucher bedeuten in diesem Fall gute Zeiten für den Arbeitsmarkt. So plant Kreuzberg eine neue Abteilung Nichtraucherschutz mit einem Personalbedarf an 2.500 Ordnungshütern. Dienststellenleiter und Dezernent wird der bundesweit bekannte Oberregierungsrat Burkhard van Nelle, der mit zwei Mitarbeitern das Nichtraucherschutzgesetz in Lokalen mit aller Härte bereits in Kreuzberg umgesetzt hat. »Ich bin stolz, diese verantwortungsvolle Aufgabe übernehmen zu dürfen« meint van Nelle, »wir werden unter meiner Führung nicht eine Zigarettenkippe im Kiez zulassen«. Bewerbungen sind erwünscht aus dem Beamtenpool, bevorzugt werden pädagogische Mitarbeiter aus dem Schulbereich, denn »Schulen können durchaus nach der erfolgreichen Etablierung des jahrgangsübergreifenden Lernens auf Lehrer verzichten«, so Bildungssenator Klaus Zöllner. »Die Schüler der ersten drei Klassen unterrichten sich nun qualifiziert gegenseitig«. Das Rauchen wird geahndet werden mit einer Geldstrafe bis zu 1000€, Denunziation ist erwünscht und wird mit einer Kopfprämie von 300€ belohnt.

Für die Tabak- und Zeitungsläden wird mit einem umfangreichen Entschädigungspaket geworben. So erhalten Läden, die sich für einen Umzug in einen anderen Stadtteil entscheiden ein großzügiges Startkapital, Umzugskostenhilfe und Mietfreiheit für ein Jahr, finanziert über die EU. Alternativ wird für verbleibende Geschäfte eine Produktumstellung gefördert. So hat man bereits Kontakt zum Brandenburger Bauernverband aufgenommen, um ungesunden Tabak und Zigaretten mit groß und stark machender Milch von Brandenburger Bauern zu substituieren. Der Brandenburger Bauernverband musste in diesem Vertrag lediglich auf das Jammern im Jahr 2011 verzichten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom April 2010.

Haushalt ohne Plan

BVV lehnt mit großer Mehrheit den Haushaltsplan für 2010 und 2011 ab

Das war schon eine interessante Koalition, die den Bezirkshaushalt von Friedrichshain-Kreuzberg am 24. Februar in der Bezirksverordnetenversammlung (BVV) einfach mal ablehnte. Die Grünen votierten mit der CDU, der FDP und der Linken gegen den Etat. Lediglich die SPD stimmte dafür.

JUGEND DEMONSTRIERT: Schon im Sommer wurde  für den Erhalt von Jugendeinrichtungen protestiert.  Das könnte bald wieder passieren.

Foto: pskJUGEND DEMONSTRIERT: Schon im Sommer wurde für den Erhalt von Jugendeinrichtungen protestiert. Das könnte bald wieder passieren. Foto: psk

»Wir können die Kürzungsvorgaben des SPD-geführten Senats für unseren Bezirk nicht verantworten«, erklärte Daniel Wesener, Fraktionssprecher der Grünen. Und er war sich darin einig mit der Linken, die immerhin im Senat mitregiert. Die Linken im Bezirk bekamen dabei unerwartet prominente Unterstützung, denn mit der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Halina Wawzyniak war immerhin erstmals eine amtierende Bundestagsabgeordnete ins Rathaus nach Kreuzberg gekommen. Und sie stärkt den Genossen den Rücken gegen den Senat. Dabei verweist sie auf einen bundespolitischen Aspekt der Entscheidung in der BVV: »Es gilt auf Bundesebene die Kommunalfinanzen neu zu gestalten. Aber auch der Senat muss sich entscheiden, ob er die Bezirke endlich ausfinanziert oder sie perspektivisch abschafft. Ein ‚weiter so‘ kann es nicht geben.«

Es ist nicht zum ersten Mal, dass sich die BVV einem Haushaltsplan einfach verweigert. Beim letzten Mal hat das auch ganz gut funktioniert, denn bei Nachverhandlungen mit dem Senat gab es dann auch mehr Geld. Doch damit rechnet Wawzyniak diesmal nicht. Der Bundestagsabgeordneten ist ebenso wie ihren Kollegen im Bezirk klar, was dies heißt. Friedrichshain-Kreuzberg wird unter vorläufige Haushaltswirtschaft gestellt und darf nur noch dafür Geld ausgeben, wozu der Bezirk gesetzlich verpflichtet ist.

Nach den Zuweisungen des Landes Berlin fehlen dem Bezirk noch fünf Millionen Euro. Laut Daniel Wesener bedeutet dies: »Wenn der Bezirk dieses Defizit auflösen würde, müssten leider auch Einrichtungen wie Bibliotheken oder Jugendclubs schließen.«

Schon im Herbst hatte es heftige Proteste gegen die Pläne des Bezirks gegeben, Jugendfreizeiteinrichtungen an freie Träger abzugeben. Die mögliche Schließung solcher Einrichtungen würde erst recht einen Sturm der Entrüstung hervorrufen.

Alles in Allem umfasst der abgelehnte Etat 560 Millionen Euro. Doch der Bezirk kann nur über einen kleinen Bruchteil davon verfügen. Den Löwenanteil verschlingen durchlaufende Posten wie zum Beispiel Transferleistungen, zu denen beispielsweise Sozialhilfe und Wohngeld gehören.

Erschienen in der gedruckten KuK vom März 2010.

Hubschrauber, Bürgerwehr und gute Worte

Ratlosigkeit im Kampf gegen Autobrandstifter

Brennende Autos in Kreuzberg und Friedrichshain scheinen inzwischen zum Alltag zu gehören. Wie die Berliner Polizei diesem inzwischen chronischen Problem endlich Herr werden will, hat Polizeipräsident Glietsch in einem großen Interview, das er dem »Tagespiegel« gegeben hat, leider nicht verraten. Dagegen hat der frühere CDU-Bundestagskandidat für Kreuzberg der gleichen Zeitung verraten, was er ablehnt, nämlich eine Bürgerwehr.

Tatsächlich ist die Ratlosigkeit aller Orten inzwischen ziemlich groß. Die Bürgerlichen Parteien werfen der Berliner Polizei vor, zu wenig gegen die steigende Zahl der Brandstiftungen zu unternehmen, doch ein Patentrezept haben auch sie nicht.

Einen Rückschlag mussten die Ermittlungsbehörden nun hinnehmen, als die Justiz zwei Verdächtige wieder laufen ließ und der Polizei mehr oder minder deutlich Schwächen in der Ermittlung unterstellten.

Tatsächlich scheinen die Beamten bisweilen etwas unbedarft zur Werke zu gehen. In der militanten linken Szene amüsiert man sich jetzt noch über die polizeiliche Einschätzung eines Brandanschlages auf einen mehr als zehn Jahre alten japanischen Mittelklassewagen. Da dieses Modell nun schon ziemlich betagt war und außerdem entschieden nicht ins Hochpreissegment passte, entschied die Polizei messerscharf, dass es sich dabei nicht um einen politisch motivierten Brandanschlag handele.

Die Polizei musste sich dann allerdings von der linken Szene korrigieren lassen. Ein Wagen mit dem Kennzeichen B-DM 1933 habe durchaus eine politische Bedeutung, zumal er einer, wie die Linken behaupteten, bekennenden Rechtsextremistin gehöre.

Dieter Glietsch, will im Kampf gegen die Autozündler weder Hubschrauber einsetzen, wie das zum Beispiel schon im Kampf gegen Sprayer passiert ist, noch will er bestätigen, dass die Polizei Lockfahrzeuge einsetzt.

Er hofft, dass vor allem linke Politiker mit guten Worten auf die Szene einwirken können, damit die Brandanschläge aufhören. Kurt Wanser wird das nicht genügen. Er fürchtet sowohl um seinen Kiez, als auch, dass Bürger zur Selbtsjustiz schreiten könnten.

Erschienen in der gedruckten KuK vom November 2009.

Ströbele scheitert knapp – an 50 Prozent

Halina Wawzyniak schafft Sprung in den Bundestag / Piraten mit Rekordergebnis

So sehen Sieger aus: Hans-Christian Ströbele gewinnt den Wahlkreis vor Halina Wawzyniak.

Foto: rsp/piSo sehen Sieger aus: Hans-Christian Ströbele gewinnt den Wahlkreis vor Halina Wawzyniak. Foto: rsp/pi

Man ist nie zu alt, um sich neue Ziele zu setzen. Zum Beispiel könnte es sich Hans-Christian Ströbele in vier Jahren, da ist er dann 74, zum Ziel setzen, als erster grüner Kandidat in seinem Wahlkreis die absolute Mehrheit zu holen. Dieses Mal ist er noch knapp daran gescheitert. Es fehlen ja nur noch 3,2 Prozent. Das sollte kein allzu großes Problem sein. Schließlich hat er sein Ergebnis von 2005 um satte 3,5 Prozent verbessert.

Bei dieser Bundestagswahl hat Ströbele im übrigen das drittbeste Ergebnis aller Kandidaten in Berlin eingefahren. Nur Gesine Lötzsch und Petra Pau von den Linken waren noch besser. Die dürfen sich auf eine Bereicherung ihrer Frauenriege aus Friedrichshain-Kreuzberg freuen: Halina Wawzyniak hat es über die Landesliste geschafft. Beim Treffen mit der KuK hatte sie noch über ihre Chance geflachst: »Ach, wir brauchen ja nur 20 Prozent der Zweitstimmen, dann schaffen wir es.« – Voila!

Zwar ist sie über Platz 5 der Landesliste in den Bundestag gekommen, doch auch im Bezirk hatte sie ein achtbares Ergebnis. Mit 17,5 Prozent eroberte sie Rang zwei im Wahlkreis, noch vor Björn Böhning von der SPD, der vier Prozentpunkte einbüßte und mit 16,7 Prozent ins Ziel ging.

Genau 15 Stimmen mehr als ihr Vorgänger Kurt Wansner hat Vera Lengsfeld gesammelt. Vielleicht schafft sie es ja auch noch in den Bundestag. Sie ist erste Nachrückerin.

Markus Löning konnte den Erststimmenanteil der FDP von 2,7 auf 4,1 Prozent fast verdoppeln.

Und dann gibt es da noch einen ganz besonderen Rekord zu vermelden: Das bundesweit beste Zweitstimmenergebnis feierte die neue Piratenpartei im Wahlbezirk Friedrichshain-Kreuzberg. Sechs Prozent holten die Piraten hier. Sie hatten auf einen Direktkandiaten verzichtet, um Hans-Christian Ströbele gewinnen zu lassen. Mit Erfolg: Ströbele erreichte an der Skalitzer Straße sein bestes je gemessenes Ergebnis mit 70,25 Prozent der Stimmen.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2009.

Bezirk spart sich Jugend

Freie Träger für Einrichtungen gesucht

Der Bezirk will seine Jugendeinrichtungen loswerden. Bis zum 30. Juni 2010 sollen die insgesamt 55 Mitarbeiter von Zentren wie dem Statthaus Böcklerpark oder dem Wasserturm an der Fidicinstraße in den Stellenpool versetzt werden.

Foto: pskVor nahezu jeder BVV- oder Ausschusssitzung kommt es mittlerweile zu massiven Protesten Foto: psk

So sind zumindest die Vorstellungen der dafür zuständigen Stadträtin Monika Herrmann. Sie verspricht sich dadurch Einsparungen in Höhe von einer Million Euro.

Geschlossen werden sollen die Einrichtungen aber nicht. Vielmehr sollen sie in freie Trägerschaften überführt werden. Doch dagegen regt sich breiter Widerstand über die Parteigrenzen hinaus. So regte zum Beispiel SPD-Kandidat Björn Böhning an, lieber im Bauressort zu sparen. Vor nahezu jeder BVV- oder Ausschusssitzung kommt es mittlerweile zu massiven Protesten gegen die grüne Bezirksstadträtin.

Erschienen in der gedruckten KuK vom Oktober 2009.

Drei aus dem Kiez in den Bundestag?

Die Chancen der Kandidaten sind unterschiedlich – aber für fast jeden gut

In einem sind sich alle Kandidaten einig: Der Wahlkreis Friedrichshain-Kreuzberg-Prenzlauer-Berg-Ost ist der spannendste im ganzen Bundesgebiet. Das liegt zum einen daran, dass hier mit Hans-Christian Ströbele der einzige Grüne antritt, der bislang ein Direktmandat im Bundestag errungen hat. Zum anderen spielt sicherlich eine Rolle, dass die anderen Parteien durch die Bank weg starke Kandidaten ins Rennen geschickt haben.

Doch wer wird am Ende tatsächlich in den Bundestag einziehen? Theoretisch könnte der Wahlkreis in der nächsten Legislatur sogar von drei Abgeordneten vertreten werden. Wahrscheinlich ist das nicht – aber ganz ausgeschlossen eben auch nicht.

Grundvoraussetzung für dieses Szenario ist zunächsteinmal, dass ein Mann gewählt wird. Die Erklärung ist einfach und hat nichts mit männlichem Chauvinismus zu tun. Tatsächlich ist keiner der drei Männer über die Landesliste abgesichert.

Sichere Listenplätze haben Halina Wawzyniak (Linke) und Vera Lengsfeld (CDU) nun auch nicht gerade – aber aussichtsreiche. Die bürgerliche Kandidatin Lengsfeld beispielsweise ist auf Rang 6 platziert, der der CDU immer genügt hatte – nur vor vier Jahren eben nicht.

Halina Wawzyniak wurde auf Platz 5 der Landesliste gewählt. Vor vier Jahren hätte der ebenfalls knapp nicht gereicht. Auf ihre Chancen angesprochen, ob sie es über die Liste schaffen könnte, meint sie: »Wenn wir 20 Prozent schaffen.«

Eine der beiden könnte es also schaffen, wenn die SPD schwächelt und die Stimmen nicht alle bei den Splitterparteien landen.

Ohne Netz und doppelten Boden kämpfen die drei männlichen Kandidaten. Keine Rolle im Kampf um das Direktmandat wird Markus Löning (FDP) spielen, der noch vor vier Jahren über die Liste in den Bundestag einzog.

Es könnte also auf ein Duell Ströbele gegen Böhning hinauslaufen. Genau das hat der 31jährige Ex-Jusovorsitzende bereits beschworen. Und seine Unterstützerliste liest sich imposant: Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Andrea Nahles, Literaturnobelpreisträger Günter Grass und natürlich Böhnings direkter Chef. Der heißt übrigens Klaus Wowereit.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Fünf Kandidaten bei der KuK

Öffentliche Redaktionsgespräche zur Bundestagswahl

Fünf Termine mit fünf Kandidaten an fünf verschiedenen Orten. Die Beteiligten sind auch dieses Mal wieder zufrieden. Meist treffen sich die Bundestagsbewerber gemeinsam auf Podien, um ihre Standpunkte darzulegen. Das hat so seine Tücken. »Nach ein paar Wochen mit immer den Gleichen auf den Podien könnte jeder auch für die andere Partei Wahlkampf machen«, meint Hans-Christian Ströbele. Das Format, das Kiez und Kneipe wieder gewählt hatte, bietet dem Einzelnen mehr Freiraum und wird daher gut angenommen. Unsere Redakteure Manuela Albicker und Peter S. Kaspar trafen Markus Löning in der Cantina Orange, Vera Lengsfeld im Brauhaus Südstern, Hans-Christian Ströbele im Too Dark, Halina Wawzyniak im Mrs Lovell und Björn Böhning im Valentin.

Zu den Artikeln:

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Löning will fröhlichen Wahlkampf

Der FDP-Landesvorsitzende in der Cantina Orange

Auch FDP-Politiker fahren in Kreuzberg manchmal Fahrrad, so zum Beispiel Markus Löning zur Cantina Orange, wo er als erster der fünf Direktkandidaten zum Kuk-Redaktionsgespräch antrat.

Der studierte Politikwissenschaftler arbeitete als Grafiker und hatte eine Werbeagentur, bevor er 2002 über die Landesliste der FDP in den Bundestag einzog. Mitt­lerweile ist der 49jährige Landesvorsitzender seiner Partei.

FDP-Kandidat Markus Löning im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: rspFDP-Kandidat Markus Löning im KuK-Redaktionsgespräch Foto: rsp

Was treibt einen etablierten FDP-Politiker, der eigentlich aus Steglitz-Zehlendorf kommt dazu, ausgerechnet in einem Wahlkreis anzutreten, in dem das Wort »liberal« fast schon ein Schimpfwort ist? »Ich mache einen fröhlichen und siegesgewissen Wahlkampf und kämpfe natürlich dafür, dass die FDP insgesamt viele Stimmen bekommt und dass wir die Chance haben, in Deutschland insgesamt eine andere Politik zu machen«, sagt Löning.

Wie dies aussehen könnte, erklärt er am Thema Bildungspolitik: »Man sollte die Schulpflicht ein Jahr vorziehen, um die Kinder früher ans Lernen zu bringen, als es jetzt der Fall ist.« Weiter fordert er mehr Geld für Bildung und besonders eine bessere personelle Ausstattung von Hauptschulen.

Zum Themenkomplex Strukturwandel und Lärmempfindlichkeit neu zugezogener Kiezbewohner findet Löning deutliche Worte: »Wer hier hinzieht mit einem Fenster auf die Admiralbrücke, der kann sich nicht hinterher beschweren über den Lärm. Ich finde das ist einfach unlauter von Leuten, die da hinziehen und dann sagen, jetzt soll es hier aber so ruhig sein wie in Zehlendorf.« Die Festsetzung von Mieterhöhungen soll in der Hand der Vermieter liegen, ansonsten würden die Häuser verfallen. Eine Umsetzung der sozialen Marktwirtschaft sieht er mittels Genossenschaften, der Schaffung von Wohneigentum und – in Härtefällen – durch Mietzuschüsse des Sozialamtes.

Erwartungsgemäß liberale Ansichten hat Markus Löning zum Thema Rauchverbot und Ordnungsamtseinsätze. Die vielen Vorschriften und deren buchstabengetreue Auslegung und Durchsetzung schaden seiner Meinung nach insbesondere kleineren Betrieben und führen zum Verlust von Arbeitsplätzen. Chancen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, sieht Löning am Spreeufer. Zwar trinkt auch er gerne mal ein Bier in einer der dortigen Strandbars, aber als Politiker müsse man abwägen, welche Nutzung der Flächen dem Land Berlin mehr Nutzen bringe.

Auf Schutz der Privatsphäre und der Rechte des Einzelnen legt die FDP nach Löning großen Wert. Die Themen Vorratsdatenspeicherung und Internetzensur würden mit wenig Sachkenntnis und viel Populismus diskutiert: »Ich denke auch daß das alles am Ende, nach dem Wahlkampf mit deutlich weniger Schaum vor dem Mund mal diskutiert werden muss…« auch hinsichtlich der Angemessenheit der zu ergreifenden Maßnahmen. »…wir brauchen ein Maximum an Freiheit, das Internet ist ein wahnsinnig wichtiges Forum auch zum Meinungsaustausch, da kann man nicht solchen Ideen von Vorgestern, wie das Herr Schäuble macht, kommen.«

Markus Löning findet, es gibt viel zuwenig Selbständige im Bundestag, weil das Risiko einer Geschäftsaufgabe zugunsten einer Kandidatur viel höher ist als zum Beispiel bei einem Beamten. Entsprechend schwierig gestaltet sich die tatsächliche Durchführung von Maßnahmen zum Bürokratie-Abbau.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

»Die CDU ist eine andere als vor 20 Jahren«

Vera Lengsfeld zu Gast im Brauhaus Südstern

Dass es überhaupt eine Kandidatin Vera Lengsfeld in Kreuzberg gibt, ist ihrem Kandidatenvorgänger Kurt Wansner zu verdanken. Der rief eines Tages bei ihr an und fragte sie in aller Unschuld, ob sie nicht die Kandidatin für den Wahlkreis Kreuzberg-Friedrichshain werden wolle. Zunächst war sie verblüfft, dann aber dachte sie »Das ist aber ein nettes Angebot«.

Diese Aussage sollte nicht die einzige Überraschung an diesem Abend im »Brauhaus Südstern« sein. Die erste war, dass Vera Lengsfeld mit einem ausgesprochen wohlerzogenen Hund zur Fragerunde kam. Ein andere war ihre Reaktion auf die Reaktionen zu ihren umstrittenen Plakaten. Sie kann das Grumeln in der Partei gar nicht verstehen, erklärt aber, dass Frank Henkel, der neue Landesvorsitzende der Meinung sei, dass dieses Plakat der Landes-CDU 200.000 Euro Wahlkampfkosten gespart habe.

CDU-Kandidatin Vera Lengsfeld im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: rspCDU-Kandidatin Vera Lengsfeld im KuK-Redaktionsgespräch Foto: rsp

Dass ihre Einstellungen häufig so gar nichts mit den Vorstellungen ihrer Partei zu tun haben, erklärt sie so: »Wenn ich heute hier rumgehe, habe ich das Gefühl, die Leute glauben, es sei noch die Partei wie vor 25 Jahren. Das kann ich ja verstehen, weil dieses Feindbild hatte ich vor 20 Jahren auch. Aber die Partei ist nicht mehr so. Den besten Beweis bietet mein Wahlplakat. Das wäre vor 20 Jahren unmöglich gewesen.«

Man wird an diesem Abend das Gefühl nicht los, als ob der einstmals treue Parteisoldat Kurt Wansner seiner CDU, die ihm vor vier Jahren so übel mitgespielt hat, einen Streich spielen wollte, der ihm noch besser geglückt ist, als er sich das vielleicht gedacht hat. Denn Vera Lengsfeld fand sich nach ihrer Wahlkreiskandidatur plötzlich auf einem einigermaßen aussichtsreichen Listenplatz wieder, nachdem die Basis gegen die Landesführung geputscht hatte.

Insofern hat Vera Lengsfeld wohl recht, dass sich ihre Partei geändert habe, doch als die Frage kommt, was ihre Partei für sie tue, kommt die Antwort wie aus der Pistole geschossen: »Nichts.«

Tatsächlich scheinen ihre Ansichten in vielen Fällen auch nicht gerade CDU-affin zu sein: in Sachen Vorratsdatenspeicherung findet die ehemalige DDR-Bürgerrechtlerin, die selbst lange unter Observation gelitten hat, die Argumentation nicht schlüssig. »Ich habe Erfahrungen mit flächendeckender Überwachung gemacht. Ich bin nicht dafür, dass man die Bevölkerung entmündigt wegen einer Handvoll Terroristen.«

Nicht anders sieht es bei der Sperrung von Internetseiten aus. »Der Sperrung stehe ich sehr skeptisch gegenüber«, erklärt die CDU-Kandidatin zu dem Gesetz, das immerhin von der Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) stammt.

Die Piratenpartei will Vera Lengsfeld nicht unterschätzen. »Die beackert ein Feld, das von der Politik bisher vernachlässigt wird«, erklärt sie.

In der Diskussion überraschte Vera Lengsfeld schließlich noch mit ihrem klaren Bekenntniss zum bedingungslosen Grundeinkommen. Sie nennt es einen »Befreiungsschlag gegen die Überbürokratisierung, mit der wir zu kämpfen haben.«

Als es um die Mitbewerber ging, schnitt ausgerechnet Halina Wawzyniak von der Linken in den Augen der Unionspolitikerin am besten ab. Über ihren einstigen Mitstreiter Hans-Christian Ströbele zeigte sich die frühere Grüne dagegen verwundert. »Christian hat ganz zugeknöpft auf mein Plakat reagiert.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

»Jetzt muss der Druck der Straße her«

Hans-Christian Ströbele (Bündnis90/Die Grünen) zur Vorratsdatenspeicherung beim Besuch im Too Dark

Er ist der wohl prominenteste Kandidat, bekennender Fahrradfahrer, Cannabislegalisierungsbefürworter und Bürgerrechtler, und außerdem ist er der »Titelverteidiger« des Direktmandats im, wie er selbst sagt, »berühmtesten Wahlkreis Deutschlands«. Entsprechend groß war der Andrang im Too Dark in der Fürbringerstraße, entsprechend hoch auch die Erwartungen an den Grünen Hans-Christian Ströbele, den viele als ihren ganz persönlichen Kreuzberg-Vertreter im Bundestag sehen beziehungsweise gerne sähen.

Als Bundestagsabgeordneter ist er natürlich nicht für Lokalpolitik zuständig, setzt sich aber trotzdem mit den Angelegenheiten im Bezirk auseinander. Mit der Drückerstube am Kotti zum Beispiel, für die er bei Anwohnern um Verständnis wirbt. Nach seiner Meinung müsste auch der Senat mehr Geld zur Verfügung stellen, um längere Öffnungszeiten zu ermöglichen. Auch in Sachen Admiralbrücke will er sich für eine einvernehmliche Lösung einsetzen.

Grünen-Kandidat Hans-Christian Ströbele im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: rspGrünen-Kandidat Hans-Christian Ströbele im KuK-Redaktionsgespräch Foto: rsp

Einige kiezspezifische Probleme ließen sich aber auch auf Bundesebene angehen: Zum Beispiel der Strukturwandel, der in Kreuzberg zu überhöhten Mieten führt. »Es muss auch Aufgabe des Gesetzgebers sein, bestimmte Mischungen der Bevölkerung erhalten zu können«, findet Ströbele und spricht sich für ein Bundesgesetz aus, das es der lokalen Verwaltung erlaubt, Mietobergrenzen festzulegen.

»Finanzmärkte entwaffnen!« heißt es auf seinem wieder von Seyfried gezeichneten Wahlplakat.

Aber wie soll das gehen? Sicher nicht mit dem Finanzmarktstabilisierungsgesetz, das es der Regierung erlaubt, staatliche Unterstützungsgelder an die Banken zu zahlen, findet Ströbele. »Ich will als erstes das Parlamentsrecht wiederherstellen, dass über solche Summen wieder der Bundestag entscheidet und nicht ein Finanzminister alleine.« Außerdem soll die Regierung Rechenschaft über die Zahlungen ablegen und nicht, wie bisher bei Anfragen von Ströbele geschehen, die Geschäftsgeheimnisse der Banken vorschieben. Neben dem Afghanistan-Krieg, den Ströbele möglichst bald beendet wissen möchte, ist dies eine seiner Hauptmotivationen, wieder in den Bundestag zu wollen.

Zum Thema Vorratsdatenspeicherung und Webseitensperrung verweist Ströbele auf die Demo am 12. September. »Man darf nicht immer aufs Bundesverfassungsgericht hoffen, der Druck der Straße muss her.« Sperrungen von kinderpornografischen Webseiten findet er »ungeheuer gefährlich, weil man dadurch die Möglichkeit schafft, in Zukunft aus allen möglichen Gründen Internetseiten zu sperren.«

Von einer möglichen schwarz-grünen Koalition hält Ströbele nichts, will aber »nie ‚nie‘ sagen« – wie übrigens auch zur Frage, ob er sich vorstellen könnte, in vier Jahren erneut zu kandidieren. Schließlich ist der 70jährige schon jetzt einer der ältesten Politiker im Bundestag.

Eher philosophisch war dann die Publikumsfrage, woran man einen redlichen Politiker erkenne. Grundsätzlich sähe man das »an seinem Tun« – aber die Frage, wie sich Gewissen und etwa das Fortbestehen einer Koalition zueinander verhalten, dürfe man auch nicht unterschätzen. Auf jeden Fall sei es »nicht nur eine Frage des Charakters.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

»Mieter sollen am Mietspiegel beteiligt werden«

Halina Wawzyniak (die Linke) will ungewöhnliche Wege beim Strukturwandel gehen

Da Hans-Christian Ströbele mit dem Rad unterwegs ist, stellt sich auch bei den anderen Kandidaten die Frage, welches Verkehrsmittel sie präferieren. Halina Wawzyniak kommt zum Redaktionsgespräch mit der KuK im »Mrs Lovell« mit dem Motorroller. Tags zuvor hat sie sich beim Viertelmarathon schon laufenderweise durch den Kiez bewegt. Sportlich ist sie auf jeden Fall.

Die 36jährige ist stellvertretende Bundesvorsitzende der Linken, arbeitet als Justiziarin für die Bundestagsfraktion und gehörte der Programmkommission ihrer Partei an, das heißt sie bestimmt den Kurs ihrer Partei auch ganz maßgeblich mit.

Trotzdem sitzt da auf dem hohen Barhocker eine junge Frau, die die Probleme im Kiez nicht nur aus eigenem Erleben kennt, sondern sich sowohl positioniert, als auch engagiert. An der Admiralbrücke, so gesteht sie unumwunden, hat sie abends auch gerne gesessen und hat noch ein oder zwei Bierchen getrunken, als sie noch in Kreuzberg wohnte. Als das Thema auf das »SO 36« kommt, ruft sie gleich zum Besuch des Solidaritätskonzertes auf.

Ihre Rezepte gegen die Verdrängung aus den angestammten Wohngebieten, entnimmt sie dem Mietrecht. Miet­erhöhungen darf es nur im Rahmen des Erlaubten basierend auf dem Mietspiegel geben. An dem sollen in Zukunft aber auch Mieter beteiligt sein.

Direktkandidatin Halina Wawzyniak von der Linken im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: piDirektkandidatin Halina Wawzyniak von der Linken im KuK-Redaktionsgespräch Foto: pi

Für ein anderes Problem, das der Strukturwandel mit sich bringt, hat die Juristin eine verblüffend einfache Lösung parat. Dass sich viele Zugezogene über den Lärm eingesessener Kneipen beklagten und bisweilen auch deren Aufgabe erzwingen können, ist in ihren Augen gar nicht nötig – wenn die Mietverträge anders ausgestaltet werden. »Zum Beispiel drin stehen würde: dem Mieter ist klar, dass er über eine Kneipe zieht, die Öffnungszeiten sind von da bis da. Dann würde es für ein Gericht schwieriger, zu Gunsten des Mieters zu entscheiden.«

Auf die Frage nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen bekennt sie, dass sie dafür eine gewisse Sympathie habe, räumt aber ein: »die Frage nach einem Bedingungslosen Grundeinkommen ist bei uns in der Partei noch nicht ausdiskutiert.« Derzeit fordere die Linke laut ihrem Parteiprogramm, auf das sie verpflichtet sei, eine sanktionsfreie Mindestischerung von 800 Euro. Allerdings werde die Frage nach dem Bedingungslosen Grundeinkommen nach der Wahl diskutiert werden.

Fragen ums Internet treffen bei Halina Wawzyniak ins Schwarze. Sie gibt zu, »süchtig« zu sein. Bei ihr wird getwittert und gechattet und gebloggt wann immer es geht.

Die Webseitensperre für kinderpornografische Seiten, der sich Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen verschrieben hat, nennt sie unverholen den Einstieg in die Zensur. Bayerns Innenminister Hermann versuche diese Zensur jetzt schon auf andere Bereiche zu übertragen. Halina Wawzyniak fordert dringend mehr Sachverstand in die Netzpolitik mit einzubringen und will sich dafür auch einsetzen.

Ihre persönlichen Chancen sieht sie realistisch. Sie glaubt nicht wirklich daran, Hans-Christian Ströbele gefährden zu können, schätzt aber, dass es zu einem interessanten Zweikampf zwischen ihr und Björn Böhning um den zweiten Platz geben wird. Und der Listenplatz: »Ich sammle ja fleißig Zweitstimmen und wenn wir 20 Prozent bekommen, dann bin ich im Bundestag.«

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.

Björn Böhning glaubt an seine Chance

SPD-Kandidat vermisst im Wahlkampf Inhaltliches

Er glaubt an seine Chance gegen Hans-Christian Ströbele. Björn Böhning ist mit 31 der jüngste aller Kandidaten, aber es ist nicht der jugendliche Übermut, der ihn das glauben lässt. Der ehemalige Jusovorsitzende weiß den mächtigen Parteiapperat hinter sich, was nun nicht gerade jeder seiner Mitbewerber von sich sagen kann.

Jetzt ist er Chef des Grundsatzreferats von Klaus Wowereit. Fasst man alles zusammen, dann sieht es so aus, als ob hier der Beginn einer großen Politikerkarriere zu bestaunen ist.

SPD-Kandidat Björn Böhning im KuK-Redaktionsgespräch

Foto: piSPD-Kandidat Björn Böhning im KuK-Redaktionsgespräch Foto: pi

Er selbst sieht seine Karriere als nicht so stringent an. Immerhin hat er sich auch schon für zwei Jahre aus der Politik zurückgezogen.

Doch inzwischen ist er wieder da und tritt im prominentesten Wahlkreis des Landes an. Da er immer schon im »politischen oder Politik nahen Bereich arbeiten wollte« ist davon auszugehen, dass sein Engagement nicht nach der Wahl aufhört.

Dieses politische Engagement findet auch im Kiez seinen Ausdruck. Er nennt beispielsweise die Sanierung des Baerwaldbads als Exempel dafür, wie die Bundespolitik durch Programme bis in den Kiez wirken kann. Aber es geht eben nicht alles über bundesgesetzliche Regelungen. »Ich habe das Gefühl, dass die Toleranzschwelle gesunken ist«, beklagt der bekennende Kreuzberger, der von der Katzbachstraße aus seinen Kiez im übertragenen Sinne ganz gut im Blick hat.

Gesetzliche Regelungen helfen aber auch nicht überall. Im Fall von unterschiedlichen Betrachtungsweisen zum Thema Lärmemissionen rät Böhning zum Gepräch und zur gegenseitigen Rücksichtnahme, wohlwissend, dass dies nicht immer funktionieren kann. »Ich weiß, dass das keine nachhaltige Lösung ist«, gibt er zu. Aber »ich kann ja auch nicht versprechen, dass wir die Dezibelgrenzen abschaffen.«

Beim umstrittenen Thema Admiralbrücke ist seine Haltung dagegen klar. Das hat nicht mehr viel mit dem Kreuzberger Lebensgefühl zu tun. »Die Admiralbrücke ist durch Lonely Planet und andere zu einem Anlaufpunkt für Leute geworden, die glauben, dort Party machen zu müssen.«

In Sachen Mediaspree gibt er zu bedenken, dass die SPD-Friedrichshain-Kreuzberg die einzige Partei in der BVV war, die das Bürgerbegeheren unterstützt habe. Björn Böhning outet sich auch nicht gerade als Fan des Mediaspree-Konzeptes. Allerdings muss er sich dann schnell die Frage gefallen lassen, was denn sein Chef Klaus Wowereit dazu sage, denn Böhnings Einstellung steht der des Regierenden diametral entgegen. Böhning kontert locker und charmant: »Haben Sie noch nie eine andere Meinung gehabt als Ihr Chef?«

Ein wichtiges Feld, das es im Bundestag in Zukunft zu beackern gibt, ist das Thema Internet. Das sieht auch Björn Böhning so, der aber darüber hinaus das Netz in Zukunft auch als wichtige Kommunikationsplattform mit den Bürgern sieht.

Die Vorratsdatenspeicherung lehnt Böhning ab. Er fordert, dass der Staat die gleiche Transparenz zeigen müsse, die er von seinen Bürgern erwartet.

Über 5.000 Hausbesuche habe er inzwischen gemacht, erklärt Böhning, der »die Ausgegrenzten zurück in die politische Arena holen« will. Seinen Mitbewerbern, die er persönlich schätzt, wirft er indes eine Schlemmerisierung des Wahlkampfes vor. Tiefer Ausschnitt und Pogeweih gäben keine politischen Inhalte wieder.

Erschienen in der gedruckten KuK vom September 2009.